Lektion eines Baumes…

Franziska Hauenstein, 12.05.2016

Wald

Hier steht er, mitten im Wald, einer unter vielen. Er fällt mir auf, weil wohl irgendjemand etwas in seine Rinde geritzt hat. Mich macht das sofort wütend. „Wer macht sowas? Bestimmt hat ihm jemand absichtlich Schmerzen zugefügt, musste seinen Frust irgendwo loswerden und hat sich dafür die unschuldige Natur ausgesucht. Ich kenne ja die Menschen.“ Die Verurteilungsspirale in meinem Kopf ist kaum mehr zu stoppen…

 
Tanne

Doch plötzlich spüre ich eine unendliche Güte in mir aufkeimen – oha! Der Baum meldet sich „zu Wort“.
Ich berühre die aufgeritzte Stelle an seiner Rinde mit meiner Hand und fühle, dass den Baum diese Wunde schmerzt. Aber er ist nicht wütend auf die Person, die ihn verletzt hat. Er ist voller Mitgefühl und Verständnis. Er war schon traurig darüber, aber er weiss, dass er mit negativen Gefühlen weder sich, noch dieser Person helfen kann. Er kennt das Motiv dieser Person nicht, aber er glaubt daran, dass eine in ihren Augen gute Absicht hinter ihrer Tat steckte. Er toleriert es nicht, aber er akzeptiert, was er nicht ändern kann und widmet sich längstens wieder seinem Sinn – Baum sein.

 
Tanne

Ich nehme mir vor, mehr so wie der Baum zu sein. Weder ich, noch sonst irgendwer hat das Recht, andere zu verurteilen. Denn wer kennt schon ihre Geschichte und weiss, warum sie tun, was sie tun?

„Du brauchst dich auch selbst nicht zu verurteilen.“ höre ich den Baum mir noch zuflüstern, als ich mich bereits wieder auf den Weg machen will…

Danke Baum, für diese Lektion in Güte.

 

Seelenhören · Franziska Hauenstein · 8916 Jonen · nfslnhrnch