Abschied nehmen

Franziska Hauenstein, 13.05.2021

Täglich sehe ich, wie deine Kräfte schwinden, unsere Spaziergänge sind oft ein Herumstehen, du drehst verwirrt Kreise, suchst mich in jedem Moment… kürzlich haben wir für die wenigen Meter vom Haus bis zur nächsten Wiese 20 Minuten gebraucht…

... du wirst gefühlt immer weniger, als ob sich das Leben langsam aus dir zurückzieht... und ich kann nichts tun, es zerreisst mich jetzt schon... ich spüre, das wird die bisher härteste Prüfung meines Lebens... ich muss Abschied nehmen...

Gleichzeitig kann ich sagen, ich darf zum Glück Abschied nehmen... ich habe das Privileg, mich von dir zu verabschieden... vielen bleibt das verwehrt…

 

Du hast auch „gute“ Tage und immer wieder höre ich auch von aussen, wie fit du doch für dein Alter aussiehst und bist - es kann sein, dass wir noch einige Monate oder sogar Jahre zusammen haben… und trotzdem nehme ich Abschied…

Ich nehme jeden Moment mit dir tief und so bewusst wie möglich in mein Herz auf, stundenlang habe ich schon in dein Fell geweint und dir immer wieder gesagt, wie sehr ich dich liebe und wie dankbar ich bin für unsere Begegnung… alles wird förmlich aufgesogen, die schönen Momente, aber auch die Schwierigen…

… unser Alltag ist anspruchsvoll geworden… alles wird immer langsamer, unplanbarer, starrer... wir bewegen uns im Schneckentempo und alles richtet sich nach deinem Wohlbefinden… es gibt Tage, da zerreisst es mich fast, da spüre ich in mir das pure Leben, das blühen will - da hätte ich solche Lust, wegzufahren, rauszugehen, mich schnell und frei zu bewegen – aber das ist nicht möglich und so bleibe ich einfach an deiner Seite, bin mit welkendem Leben konfrontiert.

Das, wofür du hier warst und bist, zeigt sich immer klarer... mein geliebter Käptn Now, steuerst mein Schiff immer beharrlicher in den jetzigen Moment… und ich bleibe, auch wenn es weh tut! Es war schon immer so, für dich habe ich die Energie aufgebracht, für dich habe ich den Mut und die Kraft gefunden und es ist bedingungslose Liebe, die uns verbindet... nie würde ich dich weggeben... es fordert alles von mir und so gebe ich mich hin - dir, dem jetzigen Moment, allem, was da ist, immer und immer wieder....

Was für tiefe, harte und wunderschöne Lektionen…

Mein grosser Lehrer, mein Engel und Freund.... du weiser Zauberhund...

Ich bin so dankbar, dass uns eine so intensive und bewusste Zeit geschenkt wird.

 

Mir kommt der Gedanke, dass eigentlich viel mehr Abschied genommen werden sollte – dass eigentlich das ganze Leben ein Abschied nehmen sein sollte… alles, was beginnt, wird enden, das ist sicher… wir alle wissen das und tun meistens so, als wäre es anders, blenden es aus, hetzen vom einen zum nächsten „to do“ und verpassen – den Moment - das Leben…

Abschied nehmen heisst, voll hier, voll präsent sein, mit seiner ganzen Aufmerksamkeit und Liebe hier sein und das Leben im Hier und Jetzt voll anzunehmen und zu trinken.

Denn wer weiss schon, wie viel Zeit uns noch bleibt…?


 

Seelenhören · Franziska Hauenstein · 8916 Jonen · nfslnhrnch